Die Vorstellung, dass nur die Kleinen etwas von den Großen lernen können, haben wir glücklicherweise überwunden. Doch nicht nur Faktenwissen – viele Eltern sind immer wieder überrascht, was Kinder heutzutage alles in der Schule lernen – sondern besonders die Sicht der Kleinen auf die Welt ist große Inspirationsquelle und Lernstunde.
Ein Meister dieses Faches ist Van Bo Le-Mentzel, er hat zahlreiche Vorlesungen seines Sohnes, des Kleinen Professors besucht, und seine 34 Erkenntnisse aufgeschrieben. Er sagt selbst: „Der Kleine Professor öffnete mir den Blick auf die Welt aus einer völlig anderen Perspektive und versöhnte mich mit ihr.“
Dank des fleißigen Notizenmachens hat Van Bo das Buch in kürzester Zeit geschrieben: „Vom ersten Moment an habe ich mir Notizen in meinem iPhone gemacht, das Buch habe ich übrigens in meinem zweiwöchigen Urlaub in Spanien geschrieben. Auch auf dem iPhone. Ich mache mir nun keine Notizen mehr, zeichne aber mit dem Mikrofon schöne Dialoge auf von dem Kleinen Professor und seiner kleinen Schwester, die vor einem Jahr auf die Welt kam.“
Ermöglicht wurde dies unter anderem, weil ihm durch Crowdfunding ein einjähriges Stipendium geschenkt wurde. (Ich kenne übrigens niemanden, der so viele soziale Corwdfundingkampagnen erfolgreich abgeschlossen hat wie Van Bo. Es lohnt sich ihn zu googlen, denn Schreiben ist nicht seine einzige Betätigung.) Er lernt nun auch von der kleinen Tochter, zum Beispiel, dass man auch zwei Haarwirbel haben kann: „Es ist verrückt. Ich war so begeistert von dem Haarwirbel des Kleinen Professor. Und nun sehe ich bei der Tochter. Sie hat zwei. Sieht aus wie ein Yin und Yang.“
Van Bo hinterfragt in seinem Buch viele Normen und Dinge, die man halt so macht und schlägt sogleich Varianten und alternative Betrachtungsweisen vor. Es reicht von ganz kleinen persönlichen Einsichten bis zum großen Ganzen. Das nachfolgende Kapitel 24 „Es gibt nur ein Geschlecht. Und es mag rote Damenschuhe“ habe ich ausgewählt, weil mich die Themen Geschlechtervourteile, Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes und – besonders in Bezug auf unsere Kinder – das Anerziehen von vermeintlich geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen schon lange beschäftigt (hier ein Lesetipp zu dieser großen und wichtigen Debatte).
„Der Kleine Professor“ lässt einen Schmunzeln, nachdenklich werden und sich vor allem wunderbar lesen. Ich greife immer wieder zu dem Buch und lese einzelne Kapitel ohne bestimmte Reihenfolge nochmals nach. Vor allem hat es mich inspiriert ebenfalls die Beobachtungen, die ich an und durch meine Tochter mache niederzuschreiben (mit diesem Notizbuch gelingt es besonders gut, weil man pro Seite einen Tag für fünf Jahre zur Verfügung hat und damit jedes Jahr nachlesen kann, was denn 12 Monaten spannendes passiert ist.)
Es gibt nur ein Geschlecht, und es mag rote Damenschuhe
(Ein Jahr und sechs Monate)
Als der Kleine Professor eines Morgens in den roten Damenschuhen meiner Frau in die Küche trottete, konnten wir uns vor Lachen nicht mehr halten. Erstaunlich war, dass es ihm überhaupt gelang, mit diesen hohen Absätzen zu gehen, ohne zu stolpern. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Stolz und Provokation. Ich begriff, welche Aufgabe er mir mit dieser Vorführung gab.
Der Kleine Professor zwang mich, über mein Verständnis vom Mannsein nachzudenken. Ich hatte noch nie einen Rock oder schwarze Damenstrumpfhosen getragen. Warum sollte ich, werden viele Männer sagen. Warum aber auch nicht? Diese Kleidernormen sind ja nicht naturgegeben, sondern Zuweisungen. Und sie fallen je nach Mode und Kultur sehr unterschiedlich aus. Bei T-Shirts sieht man den Unterschied gut. Tiefe Ausschnitte sind für Frauen bestimmt, die ein Dekolleté betonen. Ich habe in den letzten Jahren aber auch schon Männer gesehen, die tief geschnittene Shirts trugen. Und in den Siebzigern haben ja Musiker auch ihre Hemden bis zum untersten Knopf offen getragen und ihr Brusthaar zur Schau gestellt. Doch nur, weil es sich einige wenige so gedacht haben, heißt das noch lange nicht, dass ich es blind annehmen muss, oder? Und so ein Rock im Sommer ist doch eigentlich eine gute, lustige Angelegenheit. Heute Hidschāb, morgen Highheels, schmale, dunkelrote Damenhandschuhe, ein Minirock, wenn es draußen heiß ist, und dann noch den Lidschatten in Anthrazit au ragen, um die Augen zu betonen, und die Fingernägel schwarz anmalen, weil das einfach gut zu dem Lidschatten passt. Ich wäre nicht der Erste, der das tut. Viele Musiker wie Prince haben sich die Augen geschminkt. Und in Indien gab es vor 2000 Jahren einen echten Prinzen, der in manchen Darstellungen einen Busen hatte: Siddhartha Gautama, der Begründer des Buddhismus.
Der Kleine Professor hatte keine Angst davor, in Damenschuhe zu schlüpfen. Und im Kinderladen beobachtete ich auch, dass er keinen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen machte. Er gab beiden einen Kuss auf den Mund, wenn er die Person mochte. Wann hatte ich das letzte Mal einen Mann auf den Mund geküsst? Ich glaube, noch nie. In 20 Jahren wird vielleicht kein Mensch mehr über das Mann- oder Frausein nachdenken. Und darüber, was die Norm sein sollte. Irgendwann wird Mensch jeden heiraten können. Ohne dass jemand schräg guckt. Niemand wird schlechter bezahlt, weil der Person ein Geschlecht zugeschrieben wird, das nicht männlich ist. Irgendwann wird es völlig normal sein, dass Toiletten nicht auf zwei Geschlechter reduziert werden. Die Lesbian- Gay-Bisexual-Transgender-Bewegung (LGBT) sieht auch gar nicht ein, dass man Menschen auf zwei Geschlechter reduziert. Was ist mit den Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen zugehörig fühlen? Es fängt damit an, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen, dass der Mensch nur aus Adam oder Eva besteht. Sondern auch aus Evam, Adeva und Ave und Mada. Es gibt nicht zwei Geschlechter. Es gibt nur ein Geschlecht: das Menschengeschlecht. Und als tanzende Wandelwesen sollten wir uns Zeit lassen, uns durch verschiedene Identitäten grooven zu dürfen.
Ein paar Monate später wurde ich von einem Verein zu einer Mottoparty eingeladen, auf der die Seventies ausgerufen wurden. Ich kaufte mir eine Perücke mit langen, schwarzen Haaren, trug ein weites Oberteil mit großem Ausschnitt und eine knallenge Schlaghose und ging als Yoko Ono. Es war lustig. Vielleicht frag ich beim naächsten Mal den Kleinen Professor, ob er mir die roten Damenschuhe seiner Mutter leiht.
„Der Kleine Professor“ ist erschienen im österreichischen EcoWin-Verlag und kann zum Beispiel über Bücher König bestellt werden und kostet 20€.
Auf der Facebookseite des Kleinen Professors gibt es immer mal wieder eine neue Vorlesung.