Wie Kinder zu selbstständigen Menschen werden – Ein Interview mit dem Bindungsforscher Karl Heinz Brisch

Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch ist einer der wichtigsten Forscher zur Eltern-Kind-Bindung. Er leitet unter anderem die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilian-Universität München und ist neben seiner Lehrtätigkeit an dem Psychoanalytischen Institut Stuttgart unter anderem auch Autor zahlreicher Bücher. Wir haben uns mit ihm in München getroffen, um ihn zu fragen, wie Kinder zu selbstständigen und selbstsicheren Menschen werden.

Herr Brisch, als Eltern wünscht man sich, dass das eigene Kind selbstständig und selbstbewusst die Welt entdeckt. Ist dieser Wunsch bei allen Eltern weltweit vorhanden?

Karl Heinz Brisch: Die ausgeprägte Betonung auf Selbstständigkeit und Autonomie finden wir vor allem in Europa – und da besonders in Westeuropa, wie beispielsweise in Deutschland oder Großbritannien, aber auch in den USA. In vielen Teilen der Welt haben Eltern eher andere Vorstellungen, wie ihr Kind werden soll. In Japan zum Beispiel, wünschen sich Eltern vor allem, dass ihr Kind intelligent wird. Da hat die Bildungsförderung einen ganz hohen Stellenwert. Dabei bleibt das Kind eng mit dem Familienverband verbunden. Wenn das Kind etwas lernt, dann ist das ein Zugewinn für die ganze Familie – und wenn es scheitert, dann scheitert die ganze Familie. In Deutschland wird jedes Kind alleine betrachtet. Hat das Kind Erfolg, sind die Eltern stolz auf das Kind, aber die Leistung wird dem Kind alleine zugeschrieben.

„Durch die Rauslösung aus der Großfamilie erfahren Eltern heute einen größeren Stellenwert als Bindungspersonen für ihre Kinder.“

Was bedeutet diese Individualisierung für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern?

KHB: In Deutschland haben Kinder normalerweise eine Beziehung zur Mutter und eine Beziehung zum Vater und daraus erkunden sie ihre Welt. In anderen Kulturen gibt es mehr eine Gruppenbindung. Das heißt die Familie als Gemeinschaft gibt Sicherheit für das Kind und kümmert sich gemeinsam. Da heraus entwickelt sich das Kind und dadurch bezieht sich sein Handeln auch immer wieder auf die Familie. In Europa war dies bis zum Beginn der Industrialisierung noch ähnlich. Durch die Rauslösung aus der Großfamilie erfahren Eltern heute einen größeren Stellenwert als Bindungspersonen für ihre Kinder.

Wenn man als Eltern möchte, dass das eigene Kind zu einem selbstständigen und selbstbewussten Individuum heranwächst, was kann man dafür tun?

KHB: Das wichtigste dafür ist eine sichere Bindung an die Eltern oder an andere verlässliche Bindungspersonen. Diese sichere Bindung , die wir auch Ur-Vertrauen nennen, ist das Fundament der Persönlichkeit und die Basis der kindlichen Entwicklung. Von da aus wollen Kinder selbstständig ihre Welt erkunden. Man kann sagen, dass die Eltern als sicherer Hafen fungieren. Merkt das Kinder beim Erkunden, dass es unsicher oder gefährlich wird, hat es die Gewissheit, immer in seinen sicheren Hafen zurückkehren zu können. In dem sicheren Hafen kann es sich beruhigen, wieder auftanken und dann wieder zu neuen Erkundungen starten. Die Gewissheit eines sicheren Hafens ist die beste Voraussetzung, um selbstständig die Welt zu erkunden.

„Das Wichtigste, damit Kinder zu selbstständigen und selbstsicheren Individuen werden, ist eine sichere Bindung an die Eltern oder an andere verlässliche Bindungspersonen.“

Was können Eltern dafür tun, dass ihr Kinder zu ihnen eine sichere Bindung entwickelt?

KHB: Eltern müssen sich feinfühlig auf die Signale ihres Kindes einlassen und dessen Bedürfnisse einigermaßen zufriedenstellend beantworten. Wenn Eltern also ihre gesamte Interaktion, wie Wickeln, Spielen oder Ins-Bett-Bringen einigermaßen feinfühlig gestalten, werden sich ihre Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit sicher an sie binden. Dies ist unabhängig davon, ob die Eltern die leiblichen Eltern sind oder nicht. Dies geschieht auch bei Pflegeeltern oder bei Adoptiveltern – und auch bei Tagesmüttern.

Ist es förderlich für ein Kind, mehrere Bindungspersonen zu haben?

KHB: Wenn Kinder mehrere Bindungspersonen haben, haben sie mehr Sicherheit – und so werden letzten Endes auch die Eltern in ihrer Funktion als Hauptbindungspersonen unterstützt. Kinder mit mehreren Bindungspersonen haben so ein Netz an sicheren Häfen, und wenn sie in der Welt unterwegs sind, dann können sie mal hier, mal da vor Anker gehen und müssen nicht jedes Mal nach Hause zurück, wenn sie sich unsicher fühlen oder emotional auftanken müssen. Eine sichere Bindung entsteht jedoch nicht von heute auf morgen. Sie erfordert nicht nur feinfühliges Verhalten, sondern auch Zeit.

„Eine sichere Bindung entsteht nicht von heute auf morgen. Sie erfordert nicht nur ein feinfühliges Verhalten, sondern auch Zeit.“

Welches Verhalten führt eher dazu, dass Kinder an den Eltern klammern und Angst haben sich von ihnen zu entfernen?

KHB: Wenn Eltern sich nicht feinfühlig auf die Signale des Kindes einlassen und diese unzufriedenstellend beantworten, also die Signale zurückweisen, nicht wahrnehmen, oder gar das Kind vernachlässigen und Gewalt ausüben. Trotzdem bleiben die Eltern die Bindungspersonen. Das Kind bindest sich jedoch in einer ängstlichen oder bindungsgestörten Art und Weise an die Eltern. Dadurch hat es dieses Urvertrauen und die Sicherheit des sicheren Hafens nicht. Wenn Eltern dann sehr ehrgeizig ihr Kind fördern wollen und in die Welt hinaus schicken, wird das Kind ängstlich reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind dann diese Angst irgendwo kompensiert und emotionale Schwierigkeiten entwickelt, ist sehr groß. Durch die fehlende Sicherheit kann das Kind die Loslösung und Autonomie – mit einem guten Gefühl von emotionaler Sicherheit – nur schwer oder gar nicht bewältigen.

„Wenn man aber nicht liebes- und beziehungsfähig ist, wird man mehr oder weniger zeitlebens unglücklich sein. Denn gute und glückliche Beziehungen entscheiden darüber, ob wir in unserem Leben zufrieden sind.“

In welchem Zusammenhang steht die sichere Bindung des Kindes mit seiner Entwicklung?

KHB: Die sichere Bindung an die Eltern spielt unter anderem eine wichtige Rolle bei der psychischen Entwicklung des Kindes. Diese entscheidet am Ende, ob das Kind mit seinem Leben glücklich und zufrieden wird. Man kann ja sehr begabt und erfolgreich sein, bis hin zum Nobelpreis. Wenn man aber nicht liebes- und beziehungsfähig ist, wird man mehr oder weniger zeitlebens unglücklich sein. Denn gute und glückliche Beziehungen entscheiden darüber, ob wir in unserem Leben zufrieden sind.
Sicher gebundene Kinder haben unter anderem auch eine bessere Sprachentwicklung, können ausdauernder auf Ziele hinarbeiten und sind besser in der Lage, sich in andere Menschen hinein zu versetzen.

Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, müssen seine Eltern feinfühlig auf es eingehen. Was bedeutet dies genau?

KHB: Wenn ein Baby weint, müssen die Eltern interpretieren, was das bedeutet. Ist es Hunger, Durst, Langeweile, Schmerz, zu laut, zu leise, zu heiß, zu kalt, zu viel Reize oder zu wenig, etc.? Die Eltern müssen irgendwie heraus finden, was der Grund des Weinens ist und entsprechend darauf reagieren. Wenn das Baby Hunger hat, muss es gestillt oder gefüttert werden. Hat das Baby Angst, reich es vielleicht, es auf den Arm zu nehmen. Wenn das Baby eine Wut hat, weil gerade etwas nicht so funktioniert, wie es das möchte, müssen die Eltern es trösten und in seiner Wut begleiten – und beispielsweise nicht stillen oder ihm den Schnuller geben. Es passiert ganz oft, dass Eltern dem Baby etwas anbieten, das nicht zu dessen Bedürfnis passt. Wenn Eltern dies merken, können sie es korrigieren und herausrätseln, was es dann sein könnte. Wenn Eltern aber beharren, also dem Baby etwas aufdrängen, was nicht seinen Bedürfnissen entspricht, dann ist das nicht feinfühlig.

„Es passiert ganz oft, dass Eltern dem Baby etwas anbieten, das nicht zu dessen Bedürfnis passt. Wenn Eltern dies merken, können sie es korrigieren und herausrätseln, was es dann sein könnte.“

KHB: Wenn beispielsweise ein Kind satt ist und nicht mehr weiter essen kann, müssen seine Eltern dies wahrnehmen. Das richtige Verhalten der Eltern wäre es dann, den Teller Essen wegzustellen und dem Kind zu gestatten, das Essen zu beenden. Es passiert aber oft, dass Eltern darauf beharren, dass das Kind weiter isst. Dann bekommt das Kind Angst. Mit dieser Angst kann es dann schlecht zu seinen Eltern gehen, weil seine Eltern ja diejenigen sind, die ihm Angst machen. Gibt es solche und ähnliche Situationen häufiger, dann entsteht mit der Zeit eher eine unsichere Bindung.

Kann man sagen, dass Eltern im Normalfall lernen, die Kommunikation ihres Babys richtig zu interpretieren?

KHB: Wenn Menschen selber bindungssicher sind, also selber eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben, dann lernen sie ganz schnell, ihr Baby richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Diese Menschen haben selber erfahren, wie jemand ihre Signale richtig gelesen und prompt, feinfühlig und zuverlässig darauf reagiert hat. Wenn Menschen das aber selber nicht erlebt haben, fällt es ihnen schwer, feinfühlig auf die Bedürfnisse ihres Babys zu reagieren. Bindungsgestörte Menschen wissen gar nicht, wie ein feinfühliges Verhalten funktioniert.

„Als Eltern muss man sich immer wieder ausruhen können. Wenn man müde und erschöpft ist, dann wird man unfeinfühlig.“

Welchen Ratschlag würden Sie werdenden Eltern geben, damit sie sich bereits vor der Geburt ihres Babys auf die schwierigen Momente des Elternseins vorbereiten können?

Neben einem Geburtsvorbereitungskurs sollten werdende Eltern auch einen SAFE®-Kurs (Sichere Ausbildung für Eltern) während der Schwangerschaft besuchen. In dem SAFE®–Kurs erlernen Eltern die Kommunikation mit ihrem Baby und einen feinfühligen Umgang. Wenn das Baby erst mal da ist, dann sind die Prioritäten oft andere. Es ist vielleicht wie mit einem Segelkurs. Das Lesen der Wellen und der sich anbahnenden Stürme lernt man auch zunächst auf dem Trockenen und nicht erst auf stürmischer See. Wenn man die Theorie des Segelns beherrscht, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man das auch auf dem Boot hinbekommt, wenn das Meer rau ist. Unsere Forschung zeigt, dass die SAFE®-Kurse funktionieren. Es haben mehr Kinder eine sichere Bindung zu ihren Eltern, wenn ihre Eltern neben Kursen wie einem Geburtsvorbereitungs-, einem Wickel- oder einem Stillkurs auch einen SAFE®–Kurs besucht haben. Besonders die werdenden Väter profitieren ebenfalls sehr von unseren Kursen.

„Schwierige Zeiten gibt es immer wieder im Familienalltag: Ein Baby zu haben ist anstrengend.“

Was kann man als Elternteil unternehmen, wenn das Kind schon da ist und man merkt, dass man immer wieder keine Kapazitäten hat, um angemessen und unmittelbar darauf zu reagieren?

Dann sollte man sich ganz schnell Hilfe holen. Als Eltern muss man sich immer wieder ausruhen können. Wenn man müde und erschöpft ist, dann wird man unfeinfühlig. Pausen und Auftanken sind daher ganz wichtig für Eltern. Die Unterstützung zum Ausruhen kann der andere Elternteil sein, die Großeltern oder jemand aus dem Bekanntenkreis, damit man in schwierigen Zeiten nicht überfordert ist. Und schwierige Zeiten gibt es immer wieder im Familienalltag: Ein Baby zu haben ist anstrengend. Aber Freude und Glück sind mit einem Kind natürlich auch gänzlich anders. Mit Babys ist das ganz besonders so, weil sie einfach ein ziemliches Wunderwerk sind, wie sie sich entwickeln und nach einem Jahr laufen können und Papa und Mama sagen.

logo-safeDie SAFE®-Kurse wurden von Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch gemeinsam mit einem Team von Psychologen und in Zusammenarbeit mit der LMU München entwickelt. Sie basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und unterstützen werdende Eltern darin, eine positive Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen und dadurch den Grundstein für die weitere gesunde Entwicklung ihres Kindes zu legen. SAFE-Kurse werden deutschlandweit angeboten und richten sich an werdende Eltern bis etwa zum 7. Schwangerschaftsmonat. 

Titelfoto: Klett-Cotta Verlag

 

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